Gedicht der Woche
#„Ich kannte einen, der kannte nichts
Dunkleres als das Licht, das er ein Leben lang
untersuchte mit kurzsichtigen Augen.
Er vertiefte sich in den dichten Schatten
des Talmud und feilte wie ein Tagelöhner
an den bärtigen Schriften der Gnosis
bis er selbst wie einer der Buchstaben aussah,
die Gott nicht erkennen.
Von ihm lernte ich, woher das Licht kommt,
auf den Bildern Vermeers, das sich nie wiederholt.
Seine klugen, kurzen Essays über den Winkel,
die Ecke, den Schleier werden von Faltern gelesen,
die aus gelehrten Büchern aufsteigen,
sein Roman in Fragmenten bleibt unerhört.
Wir besuchten täglich den Brunnen, in den,
wie es hieß, die Magd gefallen war
beim Betrachten der Sterne, und nichts
konnte ihn stärker erschüttern als die Ameisen,
die den Erdball rotieren ließen.
Als die Kerze erlosch, in deren Schein
er all seine Schriften verfaßte, ergab er sich
endlich dem Licht, an das er nicht glaubte.“
– Michael Krüger, Schatten und Licht